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Thomas Pisar (Keynote Speaker, Consultant, Physiker) – Antifragilität – Systeme für den Ernstfall optimieren

Dies ist der zweite Teil unseres Interviews. Sollten Sie den ersten verpasst haben, können Sie ihn HIER nachholen.
Thomas Pisar – Keynote Speaker, Consultant, Physiker. In diesem exklusiven Interview geht er unter anderem den Fragen nach, wie Systeme von Störungen möglichst profitieren können, warum KPIs alleine noch keine ganze Geschichte erzählen, oder wie Führung in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten aussehen sollte.
Du sprichst von Antifragilität als einem Konzept, das über Resilienz hinausgeht. Wie können Unternehmen konkret antifragile Strukturen entwickeln, um in Zeiten ständiger Disruption nicht nur zu bestehen, sondern zu wachsen?
Nassim Taleb hat in seinem 2012 erschienen Buch „Antifragil: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ erstmals den Begriff der Antifragilität in die Welt geworfen. Die Begriffe „fragil“, „stabil“, „resilient“ und „antifragil“ bezeichnen, wie Systeme auf Störungen reagieren.
Fragil ist ein System, das bei einer Störung seine Leistungsfähigkeit schwächt bzw. ganz verliert. Beispiel: ein Glas fällt auf den Boden, zerbricht dabei.
Stabil ist ein System, das bei einer Wechselwirkung keine spürbare Beeinflussung erfährt. Wenn Regen auf einen Stein fällt, dann verändert das den Stein im Stein-Sein nicht.
Resilient ist ein System, das durch eine Störung eine Veränderung erfährt, sich aber nach einer erklecklichen Zeit nach der Störung wieder im ursprünglichen Zustand wieder findet. Ein Weizenfeld, durch das der Wind bläst, biegt sich und sobald der Wind wieder aufhört, schaut es aus wie zuvor. Gerade mal ausgehalten.
Antifragil ist ein System, das durch eine Störung ebenfalls verändert wird, danach aber stärker ist, also eine höhere Leistungsfähigkeit hat als davor. Ein Muskel, der trainiert wird, ist vielleicht am nächsten Tag müde, wird aber durch das Training wachsen.
Wenn wir uns in einer Zeit des kontinuierlichen Changes befinden, dann müssen wir danach trachten, dass wir eine antifragile Organisation bauen. Ansonsten werden wir mit jedem Change nur schlechter und schlechter und schlechter. Irgendwann werden wir aussortiert.
Was zeichnet antifragile Organisationen aus? Einige Eigenschaften dazu:
Chaos – ein Beispiel: eine Organisation, die über Jahrzehnte ihre Keyplayer-Eichen an der gleichen Stelle belässt, ist fragiler als eine Organisation, die über regelmäßige Personalrochaden den Grad der Vernetzung und die Möglichkeit der Entwicklung junger Talente fördert. Das erzeugt vielleicht zwischenzeitlich Chaos, aber die Vorteile überwiegen bei weitem.
Überkompensation: die Organisation richtet sich nicht nur darauf aus, die Störung gerade mal so zu verdauen, sondern überkompensiert massiv. Der frühere Onlinebuchhändler, den wir alle kennen, hat keine Cloud-Transformation Richtung Microsoft gemacht, sondern eine eigene Cloud-Lösung gebaut. Die AWS ist heute die kommerziell erfolgreichste Sparte von Amazon.
Optionalität: die Organisation hat die Möglichkeit auf zukünftige Störungen mit unterschiedlichen Optionen zu reagieren und ist nicht auf ein „Standardverfahren“ festgenagelt.
Change-Fähigkeit: so wie wir vor 30 Jahren Projektmanagement und vor 10 Jahren Agile gelernt haben, beides Themen, die mittlerweile kaum noch wen interessieren, weil sie Commodity geworden sind, so müssen wir auch Change lernen. Hier insbesondere den Change im sozialen System. Das ist kein Mysterium, man muss es nur machen.
Redundanzen: sowohl im technischen System, aber auch im sozialen System sind Redundanzen erforderlich. Ein super trainierter Marathonläufer tut sich schwer beim Boxen. Das Paradigma der reinen effizienten Optimierung ist überholt. Effizienz führt zu Standardisierung. Standardisierung liefert schlechte Antworten, wenn uns eine neue, komplexe Störung aus der Bahn wirft.
Innovation und Impulse von innen und außen: die großen Entwicklungen rund um Cloud oder AI finden an vergleichsweisen wenigen Orten statt. Die Inkubation und Integration dieser Innovationen in der eigenen Organisation sind aber maßgeblich. Ab und zu den Blick nach außen zu werfen schadet nicht. Die eigene Organisation als Nährboden flächendeckend zu nutzen, den Mitarbeitenden, die es wollen, auch den Freiraum zu lassen, Neues in Experimenten auszuprobieren, ist weitaus effektiver, als eine Abteilung „Innovation“ inklusive „Innovations-Stage-Gate-Prozess“ zu etablieren. Der nächste Grippe-Virus meldet sich auch nicht von selbst bei der WHO.
Weitere IT-Profis aus der Schweiz finden Sie beim Confare CIOSUMMIT Zürich am 10.09.2025. Anmeldungen sind HIER möglich.
Du kritisierst die unreflektierte Anwendung von KPIs und betonen die Bedeutung von Urteilsvermögen. Wie können Führungskräfte ein Gleichgewicht zwischen quantitativen Metriken und qualitativen Einschätzungen finden?
“You can’t manage what you can’t measure.”
Peter Drucker wollte damit sicher nicht sagen: Definier ein paar KPIs, dann läuft der Laden. Und genau das passiert heute viel zu oft.
In komplexen Systemen reicht Messen allein nicht mehr. Denn vieles, was zählt, lässt sich nicht zählen. Und genau da liegt das Problem: Wir messen das, was einfach zu messen ist – und lassen das weg, was schwer messbar, aber entscheidend ist.
Klassiker: Wo sucht der Betrunkene den Schlüssel? Unter der Laterne, weil dort das Licht brennt – obwohl er ihn woanders verloren hat.
Wie misst man mit KPIs bitte:
- ob die Teamstimmung nur gestresst ist – oder kurz vorm Kollaps?
- ob einzelne Keyplayer kritische Engpässe sind?
- ob Projektrisiken real sind – oder nur Alibi-Einträge?
- ob ein Business Case wirklich trägt – oder PowerPoint-Märchen erzählt?
Das geht nicht mit einer Excel-Spalte. Dafür braucht es Urteilsvermögen.
Daniel Kahneman sagt: „Urteilen ist messen mit dem Hirn.“
Und er sagt auch: Gute Heuristiken schlagen meist das Bauchgefühl, weil sie weniger Verzerrung haben. Aber Heuristik heißt nicht KPI. Es heißt: Denken in sinnvollen Vereinfachungen.
Am Ende braucht’s beides – Messung und Beurteilung. KPIs können Hinweise geben, wo man genauer hinschauen muss. Aber sie liefern keine Antworten. Die liefert der Mensch.
Wenn ich Auto fahre, schaue ich 95 % der Zeit nach vorne – auf die Straße, auf den Verkehr, auf das, was passiert. Nur ab und zu werfe ich einen Blick auf den Tacho. Wer nur auf den Tacho schaut, fährt gegen den Baum.
Und dann ist da noch der Kobra-Effekt – das Paradebeispiel für Goodhart’s Gesetz:
In Britisch-Indien wurde wegen einer Kobra-Plage von den Briten auf den Kopf von Kobras eine Belohnung bezahlt. Was haben die Inder gemacht? Richtig – Kobras gezüchtet. Als die Briten das überzuckert haben, haben sie natürlich die Prämie gestrichen. Daraufhin haben die Inder die Kobras freigelassen. Somit war die Plage noch schlimmer.
„Wenn ein Maß zum Ziel wird, hört es auf, ein gutes Maß zu sein.“
Weil man Ziele auch anders erreichen kann:
- Man erzeugt den KPI selbst (z. Kobras züchten, um sie später abzuliefern)
- Man manipuliert die Berichte (VW-Diesel lässt grüßen)
- Man erledigt Aufgaben nur zum Schein (Ticket zu, obwohl das Problem bleibt. Epics kleinschneiden, um Velocity zu pushen.)
Der eigentliche Sinn – saubere Luft, weniger Schlangen, bessere Produkte – geht verloren, wenn der KPI zum Selbstzweck wird. Der KPI verstellt den Blick auf das Ziel. Da helfen auch OKRs nur bedingt, wenn man das nicht gut spielt.
Das sollte man im Hinterkopf behalten, bevor man das nächste Ziel vergibt.
Der größte und wichtigste IT-Management-Treffpunkt Österreichs geht im September in die zweite Runde. Wir hoffen, Sie in Salzburg beim Confare CIOSUMMIT Salzburg zu treffen!
Das Motto der Confare CIOSUMMITs 2025 lautet: Balancing in Challenging Times – Enabling Visions: Welche Tipps hast Du an Führungskräfte in der IT um auch in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten langfristige Visionen nicht aus dem Blick zu verlieren?
In der aktuellen Wirtschaftslage stellt sich eine Frage automatisch: Wie schaffe ich als CIO mit weniger mehr?
Das ist kein neues Thema – seit ich Führungskraft gewesen bin, hat mich das Thema Kosten begleitet. Aktuell steigt der Druck im Kessel. Jetzt kommt noch AI dazu, und viele glauben, die macht plötzlich alles günstiger, schneller, kostenlos.
Wie stellt sich das aus der CIO-Perspektive dar: Keine Ahnung wie die Lage „on the floor“ wirklich ist? Der Druck im Kessel steigt, ich sitze aber am Deckel und sehe nicht hinein. Ich höre einzelne Geschichten, aber ist das das Gesamtbild? Laufen alle schon am Zahnfleisch? Es sind zu viele Mitarbeitende, um Einzelgespräche zu führen. Und selbst wenn, könnte ich dann ein Bild malen? Jeder hat seine individuelle Meinung und subjektive Wahrheit.
Das ist das Problem: ich soll sparen, aber es darf nichts kaputt gehen. Ich merke aber erst, wenn etwas kaputt ist, dass ich zu weit gegangen bin.
Aber: vielleicht muss ich gar nicht jedes Detail wissen. Vielleicht reicht es, wenn ich eines schaffe: dass alle verstehen, was das gemeinsame Problem ist.
Wir sind wieder bei der Aufgabe von Führung (siehe Artikel 1):
- die richtigen Strukturen bauen und
- die richtige Kommunikation (Wirtschaftsdramaturgie) einsetzen,
um die Energie der ganzen Organisation im Sinne der Aufgabe optimal nutzen.
Wenn mir das gelingt, dann muss ich nicht alles kontrollieren. Dann zieht die Organisation in dieselbe Richtung. Und dann passiert Veränderung nicht per Order – sondern aus Überzeugung.