NEU im #ConfareBlog
Exklusiv im Interview: Reinhard Riedl, Forschungsprofessor am Institut Digital Technology Management der Berner Fachhochschule, Demokratie in Gefahr – wie sich Medien auf unsere Gesellschaft auswirken

Reinhard Riedl ist Gründer und heute Herausgeber des Wissenschaftsblogs www.Societybyte.swiss. Er war Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft und ist aktuell Vizepräsident des IT-Nutzervereins SITIC.org. In diesem 2-teiligen Interview spricht der Profi über Digitalisierung, wie diese unsere Demokratie verändert und welchen Einfluss einzelne Plattformen auf das politische Klima haben.
Wie verändert die Digitalisierung die Grundlagen unserer Demokratie, und welche Chancen siehst Du, um diesen Wandel positiv zu gestalten?
Um diese Fragen zu beantworten, muss man auf einen Begriff aus dem Museum zurückgreifen: den der Kuratorin. Die Kuratorin wählt aus, stellt die Sammlung und einzelne Ausstellungen zusammen: Sie kuratiert die Ausstellungen. Für die politische Meinungsbildung war früher die Kuratierung der Nachrichten durch die Massenmedien – Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen – sehr wichtig. Heute informieren sich die Menschen aber vor allem über soziale Medien, bei denen Algorithmen die Nachrichten kuratieren. Das Ziel der Algorithmen ist dabei, dass die Menschen möglichst viel Zeit auf den sozialen Medien verbringen, denn Zeit ist Geld in Form von Werbeeinnahmen. Und die Mittel zum Erreichen dieses Ziels sind Meinungsbestätigung und Emotionalisierung.
So weit ist die Arbeit von Blattmachern in Zeitungen und Informationszuteilungsalgorithmen in sozialen Medien nicht grundverschieden. Den menschlichen Kuratoren mag es zwar um Wahrheit, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Gerechtigkeit et cetera gehen, aber sie waren und sind dabei sehr subjektiv. Die Wahrheiten der linken WoZ und der liberalen NZZ in Zürich sind beispielsweise sehr verschieden. Was in der digitalen Welt hingegen neu ist, das ist die radikale Personalisierung der Kuratierung. Die Algorithmen versuchen zu verstehen, was die Menschen jeweils individuell denken und worauf sie individuell emotional reagieren, um ihnen genau jene Beiträge zu zeigen, die sie bestätigen oder/und emotionalisieren. Sie holen uns ganz persönlich ab und sind dabei so gut, dass wir seltener als früher mit neuen Ideen oder gar den Ideen der Andersdenkenden konfrontiert werden. Ein Nebeneffekt dieser Kuratierungsmechanismen ist, dass sich Menschen mit extremen Meinungen viel einfacher mit Gleichdenkenden vernetzen können – und zwar weltweit – und dass mit genügend Engagement Aussenseiter mit seltsamen Vorstellungen grossen politischen Einfluss gewinnen können.
Beides, dass sich Menschen weniger häufig mit den Meinungen anderer auseinandersetzen und dass zahllose bizarre Meinungen durch weite Verbreitung legitimiert werden, ist ein Problem für liberale Demokratien – und zwar nicht deshalb, weil es angeblich mehr Lügen in der Welt gibt, sondern deshalb, weil es weniger Selbstverständlichkeiten gibt. Wenn alles in Frage gestellt werden kann und die Menschen nur ihre eigene Denke kennen, kommt man zu nichts mehr. Die konstruktive Konsensfindung bricht zusammen.
Bleiben Sie immer am Zahn der Zeit, was gesellschaftliche Veränderungen und IT angeht beim Confare #CIOSUMMIT Wien. Anmeldungen sind HIER möglich
Inwiefern beeinflussen Plattformen wie X und Facebook sowie Unternehmer wie Elon Musk und Mark Zuckerberg die politische Meinungsbildung?
Die Besitzer der sozialen Medien können die Algorithmen nach Gutdünken steuern. Da das Wirken der Algorithmen aufgrund des individuellen Erlebens völlig intransparent ist, ist eine Kontrolle wie es sie für Massenmedien gibt nicht nur inexistent, sondern auch praktisch unmöglich. Wir wissen also nicht, ob sie die Meinungsbildung bewusst steuern. Wir wissen nur, dass sie dazu die Möglichkeit haben.
Aber allein die indirekten Effekte der grossen Plattformen sind beträchtlich. Die Spaltung der Gesellschaft wird gefördert, bizarre Weltvorstellungen haben gute Verbreitungschancen, vermutlich wachsen durch einige dieser Plattformen auch Wut und Empörung in der Gesellschaft und ausgleichende Stimmen verlieren an Bedeutung – manche Studien legen sogar nahe, dass die sozialen Medien ein wesentlicher Grund für die rasant wachsende Zunahme psychischer Erkrankungen von Jugendlichen sind. Eine wissenschaftliche Trennung der Wirkung der Nachrichtenkuratierung auf den Plattformen von allgemeinen Zeitgeistphänomen ist aber schwierig. Der sogenannte kognitiv-kulturelle Kapitalismus verkauft ja nicht nur ideelle Werte wie lokale, tierfreundliche und ökologisch nachhaltige Lebensmittelproduktion, sondern auch Reputation. Ob letzteres durch die Plattformen zum Erfolgsrezept wurde oder die Plattformen durch die Nachfrage nach Reputation, ist schwer zu beantworten. Zu vermuten ist, dass die Wirklichkeitsmanipulation durch die Plattformnutzer ähnlich fatal wirkt wie meinungsbestätigende Nachrichtenkuratierung.
Im Grunde sind dies alles sehr alte kulturelle Phänomene. Früher verleidete man sich in der Fasnacht, dem Fasching oder dem Karneval als Etwas Besseres und lies die Sau raus. Heute produziert man Selfie-Fakes und lässt ebenfalls die Sau raus. Früher huldigte man Fürsten und Kaisern, heute ist man Follower von Influencern. Früher begeisterte man sich an öffentlichen Bestrafungen und Hinrichtungen, heute macht man Menschen online fertig.
Die grossen Unterschied zu früher sind die zeitliche und räumliche Entgrenzung und der Kontrollverlust. Im Salzkammergut-Fasching war vieles, aber nicht alles erlaubt. Soziale Normen stellt sicher, dass der soziale Nutzen ohne grosse Nebenwirkungen erreicht wurde. Zu Beginn der Internets, beispielsweise im Usenet, war das auch so. Heute scheint es nicht mehr möglich – allein schon, weil die Wertunterschiede zwischen Westen, Europa und Osten zu gross sind.
Es gibt aber auch positive Nachrichten: Es deutet einiges darauf hin, dass der letzte amerikanische Wahlkampf durch ausländische Agenten kaum manipuliert wurde. Die Behörden haben gelernt, ausländische Angriffe auf die Demokratie besser abzuwehren.
Gesellschaftliche Veränderung beginnt mit Ihnen. Melden Sie sich selbst, oder Ihre Kolleginnen beim Confare Female IT-Mentoring an und gehen Sie den ersten Schritt!
Welche Rolle spielt KI-Kompetenz dabei, demokratische Systeme widerstandsfähiger gegen Fake News und Manipulationen zu machen?
Sie ist eine notwendige Voraussetzung aber keineswegs hinreichend. Wir müssen verstehen, dass wir durch genaues Hinschauen gut gemachte Deepfakes nicht von echten Nachrichten unterscheiden können, sondern dass wir alles an Nachrichten in Bezug auf seine Stichhaltigkeit überprüfen müssen. Deepfake-Prüfsoftware hilft uns dabei nur bedingt. Kritisches Denken dagegen ist wichtiger denn je. Wir müssen dabei auch schneller werden. Dass Geschwindigkeit im kritischen Denken zählt, ist neu – für Philosophen früherer Generationen wäre das ein Widerspruch in sich gewesen.
Allerdings gibt es ein altes, gut erprobtes Allheilmittel. Und das heisst Bildung, wozu auf die Förderung des kritischen Denkens zählt. Bildung hilft nicht immer, aber sie hat eine unvergleichliche Breitenwirkung.
Und wenn wir ehrlich sind, dann gibt es auch noch ein zweites Allheilmittel. Eines, das uns sehr viel abverlangt und für viele nach Religion klingt: der Verzicht auf Macht und Manipulation. Es mag ja so sein – wissenschaftliche Evidenz dafür gibt’s allerdings nur sehr fragwürdige – dass in der Politik immer verliert, wer sich anständig verhält. In der Geschichte, das heisst über lange Zeiträume hinweg, sieht die Sache aber ziemlich anders aus.