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Die Idee der Schulklasse stammt aus dem 16. Jahrhundert: Lasst uns neue Lernlandschaften schaffen

by Yara El-Sabagh

Exclusive im #ConfareBlog Wie schaffen wir neue Lernlandschaften?

Mit Livin IT Young Perspectives ermöglicht Confare in diesem Jahr erstmals Schüler:Innen den Besuch des Confare #CIOSUMMITs, des wichtigsten IT-Management Treffpunkts Österreichs. Sie erhalten einen Einblick in die Welt von IT und Digitalisierung, treffen hochkarätige Manager und können mehr über Perspektiven und Jobaussichten in diesem Umfeld lernen.

Im Zuge der Vorbereitung der Veranstaltung haben wir mit Bildungsexperten und Pädagogen über Schule und Digitalisierung gesprochen.

Im Bloginterview: Robert Wegener, selbst Lehrer in Niedersachsen, und aktiv in der Initiative „Lernlust.Jetzt“, in der Schüler, Eltern und Lehrer gemeinsam dazu beitragen wollen, das Schulsystem weiter zu entwickeln.

Auch die CIO und CDO Community ist gefragt. Was können Unternehmen und ihre IT zu einer besseren Welt beitragen? Dafür gibt es die Confare #ImpactChallengeNominieren und Einreichen ist jetzt möglich!

Mehr Blogs zum Thema Schulsystem finden Sie hier

Was sind denn die wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen, die auf unser Bildungssystem Auswirkungen haben?

Dazu zähle ich die Migration. Eigentlich tut sie das schon seit 60 Jahren, aber wir haben immer noch kein wirklich überzeugendes Konzept dafür im Bildungssystem. Zuerst waren es die Gastarbeiterkinder, dann die Kinder von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Heute haben wir ganz unterschiedliche Hintergründe. Dazu zählt auch die Mobilität in der EU. Soweit ich sehe, wurschtelt sich da jede Schule irgendwie durch. Im Zeitalter der Digitalisierung gibt es da sehr viel Gestaltungspotential. Man könnte einen Online-Deutschkurs on Demand entwickeln, bei dem die gleichen Videos in den jeweiligen Familiensprachen angeschaut werden können. Das macht man einmal und würde den Spracherwerb bei vielen Schülern massiv erleichtern. Das ist natürlich nicht für alle Schüler geeignet, aber es wäre ein wichtiger Schritt. Das Problem ist nämlich: Wenn Schüler nichts verstehen, resignieren sie oder stören. Sie hindern dann die anderen Schüler am Lernen. Im Zusammenhang mit Flüchtlingen müsste man auch überlegen, inwieweit Lehrer in Sachen Traumasensibilität weitergebildet werden können.

Man hat den Eindruck, die Welt ändert sich rasant. Gleichzeitig scheint im Bildungssystem der Wandel nur sehr langsam zu passieren. Wie gut sind unsere Schulen denn wirklich an die Anforderungen unserer Zeit angepasst?

Ehrlich gesagt kann sich trefflich darüber streiten, was „Anforderungen unserer Zeit“ sind. Für mich sind einige Punkte eigentlich immer „Anforderungen der Zeit“:

Neugier auf die Welt, auf andere und auch auf sich selbst, gutes Gefühlsmanagement, eine Growth Mindset-Haltung, Achtung vor dem Leben. Ich denke, wichtiger als konkreten Wissen oder Kompetenzen ist die Frage: Bin ich dem Leben, der Welt zugewandt oder nicht?

Wie sehr hat sich Corona denn auf unser Bildungswesen ausgewirkt?

Es gibt Leute, die sagen, Corona hat die aktuell wichtigste gesellschaftliche Funktion der Schulen offenbart: die Aufbewahrung der Kinder. Ich denke, Corona hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, dass vor allem in den Grundschulen ein guter Betreuungsschlüssel existiert und zwischen Lehrern und Schülern gute Beziehungen bestehen. Die verheerenden Lernstandserhebungen der KMK in den 4. Klassen zeigen, dass wir viele Kinder in der Corona-Zeit nicht erreicht haben. In den weiterführenden Schulen könnte man sagen: weniger gelernt und deshalb auch weniger vergessen. Das sogenannte Bulimie-Lernen wurde reduziert. Viele fordern eine Entstaubung der Lehrpläne. Ich persönlich denke, man könnte locker auf mindestens die Hälfte der Lehrinhalte verzichten, ohne dass dies in der Gesellschaft auffallen würde.

LernlandschaftenWo siehst Du am meisten Handlungsbedarf?

Wir brauchen einen Paradigmawechsel. Unser Klassensystem stammt von den Jesuiten, die es 1599 in ihren Schulen als Standard eingeführt haben. Wir wissen inzwischen, dass die Entwicklungsvarianz bei der Einschulung bis zu 4 Jahre betragen kann. Nominell Sechsjährigen können wie Vier- oder Achtjährige sein. Die Diversität in der Schülerschaft wird immer größer – unter anderem durch die Migration, aber auch durch die Inklusion. Hier könnte man das Klassensystem aufgeben und viel stärker die Schüler selbst bestimmen lassen, was, wann, wo, wie, mit wem und vor allem von wem sie lernen. Kinder wollen lernen, und sie haben eine natürliche Freude daran. Sie wollen aber nicht lernen müssen. Wenn wir ihnen mehr Freiheit und Wahlmöglichkeit geben (was nicht Beliebigkeit heißen muss), nehmen wir sie als Partner im Bildungsprozess ernst und machen sie vom Objekt zum Subjekt ihres Lernprozesses. Es gibt freie Schulen, die das recht erfolgreich umsetzen. Es gibt die Alemannen-Schule in Wutösching, die als staatliche Schule 2019 den Deutschen Schulpreis erhalten hat. Dann hätten wir übrigens auch keinen Lehrermangel. Der Lehrermangel entsteht notwendigerweise durch das Klassensystem. Haben Sie in einer Schule 20 Klassen, müssen die jeweils in einem Fach von einem Lehrer unterrichtet werden. Fällt da ein Lehrer aus, haben Sie schon einen Mini-Lehrermangel. Wenn Sie aber die 20 Lehrer als Lernbegleiter in eine Lernlandschaft setzen und die sagen wir mal etwa 500 Schüler reisen in dieser Lernlandschaft herum, in ihrer eigenen Geschwindigkeit, in ihren selbstgewählten Teams – dann können auch mal 5 Lehrer gleichzeitig krank werden – es gibt keinen Unterrichtsausfall. Ich denke, wir würden den Lehrermangel mit einem Schlag loswerden, wenn wir dieses System flächendeckend einführen. Und angesichts der Tatsache, dass immer mehr Klassen im „klassischen“ System dysfunktional werden, haben wir eigentlich gar keine andere Wahl. Wir würden am Ende sogar mit weniger Geld und Personal auskommen. Aber wenn man sich die Empfehlungen der Wissenschaftlichen Kommission der KMK anschaut, sieht man, dass diese total im althergebrachten Paradigma verhaftet sind.

Welche Perspektiven bietet die Digitalisierung für das Schulsystem?

Digitalisierung wäre unsere große Chance, diese Lernlandschaften effizient zu verwalten. Lehrer können Lernwege digital vorbereiten und nachvollziehen. Schüler können sich in dieser digital geprägten Lernlandschaft Lehrer aussuchen (die nicht einmal an eine Schule gebunden sein müssten), sie können sogar neue Fächer kreieren, neue Lerninhalte schaffen. Ich selber stehe da noch am Anfang meiner Reise. Aber wie gesagt, das Wichtigste ist für mich nicht die Digitalisierung an sich, sondern dass wir das alte Paradigma des Lernens im Klassengleichschritt verabschieden. Ich bin sicher, wir alle, Lehrer, Schüler und Eltern, werden in den entstehenden Lernlandschaften viel mehr Freude haben als jetzt.

*Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulinum verwendet. Die in diesem Beitrag verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

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