Frank Bieser ist Gründer eines Beratungsunternehmens mit Schwerpunkt digitale Transformation. Er verfügt über mehr als 35 Jahre Erfahrung in der IT, davon über 20 Jahre als Führungskraft in multinationalen Konzernen. Unter der Marke Innovation meets Agility bietet er Beratung, Coaching und Vorträge rund um Business Agility und Innovation Leadership an.
Im Spannungsfeld von Innovation, Agilität oder Digitalisierung ist es der Kundennutzen, der Orientierung gibt, meint Frank im Interview. Persönlich treffen Sie ihn bei seiner Keynote beim Confare Digitalisierungsforum IDEE 2021:
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Was braucht es, damit Digitalisierung mehr ist als nur digitaler Aktionismus?
Finden Sie die Digitalisierungsfehler in folgenden Bildern:
- In einer spanischen Metropole können Sie mittels App ein Fahrrad leihen. Bei der Online-Registrierung wird zwingend eine spanische Postanschrift gefordert, weil der Freischaltcode als Brief zugestellt wird.
- Auf einem Portal für Flugreisende, die Entschädigungen aufgrund Verspätung oder Flugausfall geltend machen wollen, können Sie sämtliche Belege fotografieren und hochladen. Nach sechs Wochen erhalten Sie eine Aufforderung, diese Belege auszudrucken, zusätzlich ein Formular zu unterschreiben und alles zusammen mit der Post in ein Verarbeitungszentrum im Ausland zu senden.
Nachhaltige Digitalisierung beginnt damit, unternehmerische Abläufe und Produkteigenschaften aus dem Blickwinkel der Nutzerin bzw. des Kunden vollkommen neu zu betrachten. Es genügt nicht, einen sperrigen manuellen Prozess in eine Web-Anwendung umzuwandeln. Vielmehr müssen die Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, in unmittelbaren Anwender- bzw. Kundennutzen transformiert werden.
Ein Beispiel gelungener Digitalisierung sind Reparaturen an komplexen Maschinen mit Hilfe von augmented reality: Das Servicepersonal bekommt Schaltpläne und Konstruktionszeichnungen in einer Spezialbrille eingeblendet, was die Sicherheit erhöht und den Einsatzbereich der Techniker vergrößert. Mittels mobiler Datenverbindung kann bei kniffligen Fällen eine Videokonferenz mit Spezialisten des Herstellers eingeleitet werden.
Diejenigen Unternehmen, die fähig sind, an solcher digitalen Wertschöpfung teilzunehmen, müssen sich um Kundenloyalität keine Sorgen machen. Alle anderen sollten zumindest nachdenklich werden.
Was sind die wichtigsten Elemente einer Digitalisierungsstrategie im Unternehmen?
Business und IT erwecken gelegentlich den Eindruck, dass sie für unterschiedliche Teams spielen. Eine Digitalisierungsstrategie muss daher Gemeinsamkeiten fördern und Stärken bündeln. Letztendlich geht es darum, Kundinnen zu begeistern – und das schafft auf Dauer keine Unternehmenseinheit alleine.
Eine gute Strategie ist eine Sammlung von Hypothesen – und öffnet gleichzeitig den Raum für Experimente und rasches Lernen: Wie schätzen wir die Entwicklung unseres Marktes ein? Was glauben wir morgen produzieren und verkaufen zu können? Welche Verschiebungen zwischen den analogen und digitalen Kanälen erwarten wir? Wie finden wir heraus, ob diese Annahmen zutreffen? Was tun wir, wenn wir uns irren? Was, wenn wir richtig liegen? Was müssen wir dafür können? Wer kann uns dabei helfen? Wie stellen wir sicher, dass wir genügend Geld verdienen, um auch Rückschläge auszuhalten und Neues zu probieren?
Anhand solcher Leitfragen wird deutlich, dass gerade eine auf Langfristigkeit ausgerichtete Strategie immer eine gewisse Elastizität braucht – und viele Menschen aus der Organisation, die aktiv daran mitgestalten. Tatsache ist: Es gibt keine zentrale Stelle im Unternehmen (auch nicht ganz oben im Organigramm), die stets über alle Informationen verfügt, um jederzeit und überall optimale Entscheidungen zu treffen. In Zeiten von Unsicherheit zu überleben ist ein Teamsport.
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Wie spielen Innovation und Agilität mit Digitalisierung zusammen?
Wenn man den Lebenszyklus von Geschäftsmodellen betrachtet, stellt man fest, dass Innovation am Anfang steht. Sie erfordert Risikobereitschaft und Leidensfähigkeit: Das chaotische Hin-und-Her in einem Startup, in dem der Gründer dreimal täglich die Prioritäten ändert, ist kein gutes Umfeld für eine glaubwürdige Releaseplanung.
Innovation erzeugt nur dann einen Mehrwert, wenn man eine konzeptionelle Problemlösung („Problem Solution Fit“) hin zu einem marktreifen Produkt entwickeln kann („Business Market Fit“). Sobald dieses Produkt in eine Wachstumsphase übergeht, sind völlig andere Kompetenzen, Werte und Eigenschaften gefordert (zum Beispiel wird Verlässlichkeit wichtiger als Kreativität). Hier erst schlägt die Stunde der Agilität: Die regelmäßige Lieferung stabiler Produktfeatures in hoher Qualität – auch mit vielen Varianten – ist die Stärke agiler Produktentwicklung. Sie schafft Voraussetzungen für internationale Rollouts und kann nicht zuletzt dank DevSecOps gleichzeitig Sicherheit und Kundenzufriedenheit gewährleisten.
Während in ganz frühen Phasen der Innovation noch beklebte Pappkartons oder Skizzen auf Papier als Minimum Viable Product durchgehen, hilft Digitalisierung bereits beim schnellen Testen neuer Features im Markt – inklusive der kostengünstigen Erhebung entscheidungsrelevanter Metriken.
Fällt der Innovationsdrang jetzt zwangsläufig der Krise zum Opfer?
Wir beobachten seit einem guten Jahr zwei Strömungen: Eine Gruppe hält sich die Augen zu und hofft, dass die Krise sie nicht findet. Die andere Gruppe scheint sich zu denken „never waste a good crisis“ und arbeitet an der Organisation: Produktlinienbereinigung, Kompetenzentwicklung, digitale Transformation und andere Zukunftsthemen werden hier aktiv angegangen, weil aufgrund des reduzierten Marktdrucks jetzt endlich Zeit dafür ist – oder weil es schlicht um die Existenz geht.
Nach unserer Überzeugung ist Innovationsdrang nicht durch die Krise gefährdet, im Gegenteil: Diejenigen Unternehmen, die gut durch die Krise navigieren, pflegen oft eine lebendige Innovationskultur und fühlen sich jetzt in ihrer Haltung bestätigt.