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Silke Müller: Wir verlieren eine Generation: Kinder ungeschützt in der anarchischen Social Media Welt

by Yara El-Sabagh

#ConfareBlog mit Silke Müller:
Wir verlieren eine Generation: Kinder ungeschützt in der anarchischen Social Media Welt

Silke MüllerNicht nur Unternehmen und Wirtschaft sind von der Digitalen Transformation unmittelbar betroffen. Smartphones und Social Media haben in den Kinderzimmern Einzug gehalten und haben massiven Einfluss auf Kinder. „Wir verlieren eine Generation!“, warnt Schulleiterin Silke Müller, Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen, in ihrem aktuellen Spiegel-Bestseller. Erfahren Sie im Bloginterview, was Kinder im Haifischbecken Social Media erwartet und wie Gesetzgeber, Schule und Eltern nun handeln sollten.

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Kindern steht dank Smartphone und Internet eine schier unbegrenzte Welt offen – Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Kindheit ein?

Ich bin keine Psychologin und kann Dinge nur feststellen. Zum einen hätten Kinder und Jugendliche Zugang zu nahezu unbegrenztem Wissen und Informationen. Das ist sicher ganz anders als noch vor 30 Jahren, in denen Lehrkräfte eher Wissensvermittler waren und nun mehr und mehr zu Lernbegleitern werden müssen. Gleichzeitig sehe ich große Probleme auf uns zueilen, weil meine Generation -ich bin 1980 geboren- selbst kaum kritisches Denken und ein ebenso kritisches Hinterfragen gelernt und verinnerlicht hat. Durch die Entwicklung von KI stehen wir vermehrt vor der Frage, was will und was kann ich glauben. Das wird nicht nur die Kinder vor große Herausforderungen stellen, sondern unsere gesamte Gesellschaft. Und damit meine ich sicher nicht nur uns in den DACH-Ländern.

Mehr Sorge macht mir aber der fast anarchische und unregulierte Bereich der sozialen Netzwerke wie TikTok und Co.  Was ich hier täglich sehe und feststelle, ist eine zunehmende Abgestumpftheit, Empathielosigkeit und vor allem Antriebslosigkeit. Natürlich gab es bereits immer eine Faszination des Grausamen. Die Inhalte aber, die täglich in diesen Netzwerken auf Kinder treffen sind eben keine, die sich selbst suchen, sondern die in ihre Timelines und Feeds gespült werden und sie dann regelrecht überschwemmen. Es gibt Kinder, die interessiert das möglicherweise nicht. Dann aber gibt es eben auch Jungen und Mädchen, die verunsichert sind, ängstlich und die evtl. eben keinen Ansprechpartner haben, um diese Bilder im Gespräch zu verarbeiten. Fast wöchentlich begegnen uns Fälle von sogenanntem Cybergrooming, bei dem die Jugendlichen zum Beispiel bei Online-Games, die ebenso zu sozialen Netzwerken gehören, von Wildfremden angesprochen und sexualisiert angemacht werden. Wenn ich als Elternteil nicht weiß, dass mittlerweile hervorragende Filtertechnologien sowohl Alter als auch Identität selbst in Videobotschaften verschleiern können, sind die Kinder allein gelassen und größten Gefahren ausgesetzt. Zusammengefasst: Die Auswirkungen können katastrophal sein, wenn wir nicht endlich ein Bewusstsein für die lauernden Gefahren im Netz aufbauen.

„Wir verlieren unsere Kinder“ ist der Titel Ihres Buches – was bedeutet das im Alltag?

Natürlich ist der Titel provokativ gewählt, damit wir endlich hinsehen. Allerdings meine ich ihn genauso! Mitnichten bin ich eine Gegnerin von digitaler Transformation. Im Gegenteil. Als erste Digitalbotschafterin des Bundeslandes Niedersachsens und Leiterin einer Schule, die sich bereits 2009 auf strategische Wege der digitalen Fortentwicklung gemacht hat, unterstütze ich sämtliche digitale Prozesse bei denen meines Erachtens die ethische Dimension nur eine untergeordnete Rolle spielt und das ist ein Problem.

Bei all dem, was Kinder sehen und verarbeiten müssen, was wir ihnen als schlechteste Vorbilder durch unser eigenes -für mich oft zutiefst verachtenswertes- Verhalten durch kompromittierende Kommentare, Hatespeech etc. vorleben, verlieren wir sie als emphatische, demokratische und eben auch kritische Menschen und Denker. Sie müssen irgendwann Verantwortung für die kommenden Generationen übernehmen. Wenn aber jeder öffentliche Einsatz, jedes Engagement sofort missachtend mit Hasskommentaren gestraft werden kann, wenn anonyme Anfeindungen an der Tagesordnung sind, wer mag diese Verantwortung dann noch freiwillig übernehmen. Und wenn Gewalt, Prostitution, Rassismus und Intoleranz gleichsam normal sind, wer setzt sich dann noch dagegen ein?

Wie sehr sind Sie als Schulleiterin mit diesen Auswirkungen konfrontiert?

Jeden Tag. Durch Kinder, die sich an uns wenden. Durch misslingende Kommunikation in den Klassenchats, durch anmaßende Nachrichten über Lehrkräfte in Elterngruppen.

Chat GPT hat einen AI Hype ausgelöst. Inwieweit sind Kinder denn darauf vorbereitet, mit den neuen, unbegrenzten Möglichkeiten dieser Technologien umzugehen? Und inwieweit sind es die Schulen?

Tja, wenn ich nach Deutschland blicke, mache ich mir große Sorgen, dass wir es vielerorts nicht über Technisierungsprozesse hinaus schaffen. Glasfaseranschlüsse, technische Ausstattungen … Alles wichtig und notwendig. Es geht aber letztlich dann um gelingende Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, die nicht nur analoge Prozesse digitalisieren, sondern im Sinne der Zukunftskompetenzen Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und eben jenes kritisches Denken fordern und fördern. Mit Blick auf KI wird mir daneben ganz anders. Es geht eben auch um eine Haltungsfrage. Wenn ausgerechnet Lehrkräfte nicht erkennen, dass Schule und Unterricht nichts mehr mit einer Schule von vor zehn Jahren zu tun hat und hieraus Schlüsse ziehen im Sinne einer eigenen Weiterentwicklung, sehe ich die jetzt schon festzustellende Bildungskrisenkatastrophe als viel eklatanter an, als sie derzeit beschreiben wird. Sascha Lobo sagt, KI sei das mächtigste Instrument der Menschheit, das auch internationale Konflikte auf eine völlig neue Dimension heben könnte. Und wir in der Schule verschließen uns und hängen in einem System aus der Vergangenheit. Beschämend, katastrophal und zukunftsgefährdend. Nicht weniger dramatisch schätze ich unsere derzeitige Situation ein!

Anbieter, Markt, Eltern, Schule, Behörden – wo liegt denn aus Ihrer Sicht der größte Handlungsbedarf? Und wie wirksam sind Ihrer Ansicht nach Verbote und technische Schranken?

Bei allen. Ich möchte an dieser Stelle kurz wiederholen, was ich unlängst bei LinkedIn gepostet habe:

Es geht nicht um Verbote, sondern auch um flankierende Maßnahmen für die Netzwelt. Gemeint sind hier keine Legislative, also nicht eine derzeit nicht passende und ausreichende Gesetzgebung. Und hier sind alle Akteure der Gesellschaft gefragt.

Überall, wo Menschen zusammentreten, braucht es Übereinkünfte, Konventionen, Werte und Normen bis hin zu Compliance-Regelungen. Polizisten müssen im Einsatz IDs tragen, wir fahren mit Nummernschildern, haben Steuer-IDs. Sprich, wir sind zu jedem Zeitpunkt identifizierbar und müssen gerade stehen für Entscheidungen des Handelns. KI steht nicht nur vor der Tür, sondern wir sind mitten in der Entwicklung.

Ein anonymer, grenzenloser, ubiquitärer Zugang zu fast anarchischen Welten sollten zumindest in unseren gesellschaftlichen Breiten auf den Prüfstand! Online-Wachen, deutlich mehr digitale Streetworker und Klarnamen-Gebote mittels ID-Identifikation wären ein erster Schritt.

Kinder haben das genuine Recht beschützt zu werden. Solange, bis wir irgendwie einen Überblick und Kontrolle haben, sollten wir zumindest überdenken, wann der richtige Zeitpunkt ist, den Kindern durch das Smartphone den Zugang zum Haifischbecken zu geben. Es ist nicht das Smartphone, das an sich gefährdet, es sind letztlich die Welten dahinter, in denen wir mangels Bewusstseins und fehlender Reflektion sowie ebenso fehlender Kompetenz die Kinder eben nicht beschützen.

Wir bedienen plattitüdenhaft Worte wie „Grausamkeit, Pornographie, Rassismus, Intoleranz“. Wissen wir alle, was wirklich beispielhaft dahintersteckt? Es ist einfach Worte unreflektiert zu bedienen. In meinem Buch beschreibe ich daher nur einige Beispiele, die so oder so ähnlich auf jedem Smartphone im In- und Ausland aufpoppen. Das ist nicht nur eine Angelegenheit und ein Problem der DACH-Länder!!! Jeden Tag könnte ich Kapitel ergänzen.

Derzeit sind wir bei einem „man müsste“, wir müssen aber ins Handeln kommen. Und wir, das sind eben alle Bereiche der gestaltenden Gesellschaft.

Confare #CIOSUMMIT 2022 Wien

Wie gut funktionieren aus Ihrer Sicht die Jugendschutz-funktionen und -maßnahmen der Social Media Netzwerke und App-Anbieter?

In einem Wort? Unzureichend!

Welche konkreten Ratschläge haben Sie für Lehrer und Eltern?

Ich möchte nicht wie ein Weisheitsfresser wirken und habe sicher auch keine wirkliche Komplettlösung für das Problem. In meinem Buch „Wir verlieren unsere Kinder“ habe ich einige Ideen für Schulen und Eltern niedergeschrieben. Zwei Dinge aber sind mir eklatant wichtig:

Lassen Sie niemals ein Smartphone zur Schlafenszeit im Kinderzimmer.

Und bitte sagen Sie niemals den Satz „Mein Kind macht das nicht“. Sicher meinen Eltern diesen Satz nur gut, vielleiht auch aus Stolz auf das Kind. Falls aber dann eben doch etwas auf dem Smartphone des Kindes einfliegt oder das Kind einfach unbedacht selbst Mist baut, dann wird es sich möglicherweise genau wegen dieses Satzes nicht an die Eltern wenden. Aus Scham und aus dem Gefühl heraus, eine Enttäuschung für die Eltern zu sein.

Eltern sollten sich aufmachen in die Welt der Kinder. Vielleicht durch eigene kindliche Avatare in Accounts, in denen sie sich anmelden und aus den Augen der Kinder blicken. Jedes Online-Spiel sollte man selber zwei Wochen gespielt haben, um die Mechanismen zu verstehen. Erst dann bin ich in der Lage, meinem Kind ernstgemeinte Gesprächsangebote zu machen und es einzuladen, immer dann zu kommen, wenn es das Gefühl hat, reden zu möchten.

Gender-Hinweis:

Zur besseren Lesbarkeit dieses Blogartikels verwenden wir das generische Maskulinum. Die in diesem Blogartikel verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

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1 comment

Klaus Podirsky 30. Mai 2023 - 17:56

Schön, dass es auch zu DIESEM existenziell wichtigen Thema einen Blog auf confare gibt. – Das ist super. Die Frage, die sich mir beim Lesen allerdings stellte: Wo sind jene Eltern, die sich heutzutage für MEHR an kindbezogener Kompetenz erwärmen (können) zeitlich, als ein lt. der Autorin ungenügendes, konsterniertes „da müsste man“ zu sagen? – Elternschaft muss zeitlich entlastet werden – aber nicht durch „Fremdbetreuung“, sondern durch Arbeitszeit-Reduktion „bei vollem Lohnausgleich“ + etwas wie Eltern-Kompetenz-Trainings. Bei allen anderen Lösungen sind ja dann doch keine Eltern mit verfügbarer Zeit zur Verfügung! (Oder sie sind aus Überforderung gar froh, dass es für Kinder das Internet gibt. (Je mehr, dest besser. – Also danke. twogether.wien steht als Initiative für ein „Heranwachsen in Würde“ ebenso wie ein „Altern in Würde“. http://www.twogether.wien. & Klaus Podirsky

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