#ConfareBlog mit Bestsellerautorin Silke Müller
Unser Schulsystem gleicht einer charmanten Ruinenverwaltung
Unter dem Motto „Livin IT Young Perspectives” lädt Confare Schüler*innen zum wichtigsten IT-Management Treffen Österreichs ein, dem Confare #CIOSUMMIT. In einem, eigens für sie konzipierten Programm, lernen die Schüler*innen Top-Manager*innen kennen und erleben in Workshops was es heißt, in der Unternehmens-IT zu arbeiten
Über Lehrer*innen und das Schulsystem zu schimpfen gehört im Moment zum guten Ton. Es ist wie beim Fußball. Jeder hat eine Meinung, und jeder weiß es besser als die, die mittendrin sind. Silke Müller ist Schuldirektorin und hat mit ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder!“ viele Wochen die Bestsellerlisten dominiert. Sie greift darin überaus kritisch den unzureichenden Jugendschutz in der Welt der Sozialen Medien auf.
Auf dem mit mehr als 700 IT-Professionals größten und wichtigsten IT-Management Treffpunkt Österreichs wird Silke als Keynote-Speakerin sprechen. Sichern Sie rechtzeitig Ihr Ticket, um die Spiegel-Bestsellerautorin, mehr als 100 Vortragende, dutzende Workshops und mehr als 70 innovative Lösungsanbieter persönlich zu erleben.
Für den Blog haben wir Silke gefragt, wo es denn wirklich Handlungsbedarf im Schulsystem gibt, welche Auswirkungen der Siegeszug von Generative AI und ChatGPT im Klassenzimmer hat und was notwendig ist, um die Schule positiv zu verändern.
Was sind denn die wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen, die auf unser Bildungssystem Auswirkungen haben? Wie gut sind unsere Schulen denn wirklich an die Anforderungen unserer Zeit angepasst?
Nahezu alle gesellschaftlichen Entwicklungen haben unmittelbare Auswirkungen auf das Bildungssystem. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre zu priorisieren, denn letztlich greifen viele, übrigens insbesondere auch negative Entwicklungen ineinander.
Wenn ich die derzeit wichtigsten Einflüsse nebeneinanderstelle und quasi in einer Kette miteinander verbinde, dann beschäftigen uns KI und Digitalisierung, Content und Interagieren in sozialen Netzwerken, Verlust von Bereitschaft, sich für Demokratie stark zu machen und einzusetzen und natürlich Nachhaltigkeit und Klima. Diese großen Themen werden im überalterten Fächerkanon kaum bis gar nicht abgebildet. Ein Bewusstsein für diese Themen ist oftmals weder in Bildungsverwaltung noch unter der Käseglocke des Systems Schule priorisiert und fokussiert. Unser Schulsystem gleicht einer charmanten Ruinenverwaltung und ist in dieser Form nicht bereit, auf die Herausforderungen der Zukunft und ehrlicherweise nicht mal mehr auf die der Gegenwart vorzubereiten. Was wir aber machen gleicht einem kurzen Blick aus der Schultür, um diese schnell zu schließen mit den Worten „Huch, die Welt, ich mach lieber schnell wieder zu und mach so weiter wie bisher“. In Blick auf die Belastungen der Kinder, die in Kürze Verantwortung für diese Welt übernehmen müssen, macht mir das sehr große Sorge.
Wie sehr hat sich Corona denn auf unser Bildungswesen ausgewirkt?
Ich bin der Überzeugung, dass wir es uns zu leicht machen, Verantwortlichkeiten für negative Entwicklungen nur in der Pandemie zu suchen. Sicher war diese Zeit eine große Herausforderung, die insbesondere im Bereich der Digitalisierung und digitalen Transformationen eklatante Schwachstellen aufgezeigt hat und dadurch zum Katalysator für (etwas) schnellere Prozesse zu werden. Sie hat auch gezeigt, wie wenig wir Rücksicht auf mental health und psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nehmen. Aber, die Pandemie hat nicht ausschließlich Einsamkeit, Depression und Ängste verursacht, sondern möglicherweise ja auch genau diese emotionalen Blocker für eine gute und gesunde, fröhliche Persönlichkeitsentwicklung verstärkt. Auch vor Corona haben Kinder unter traumatisierenden Begegnungen in sozialen Netzwerken, Demütigungen und Cybermobbing gelitten. Auch vor Corona hätten wir erkennen müssen, dass wir Kinder und Jugendliche als Verfechter der Demokratie verlieren, weil sie sich einfach nicht wahrgenommen fühlten. Genau das hat die Coronazeit natürlich nicht nur im Bildungssystem verstärkt.
Aus meiner Sicht hätte eine Auswirkung zwingend sein müssen, deutlich mehr in sozialpädagogische Begleitung zu investieren. Man hätte genau in dieser Zeit der “Pausetaste“ Lehrpläne umorganisieren können, entfrachten können, damit mehr Zeit für Persönlichkeitsbildung und emphatische Entwicklungsbegleitung bliebe. Nichts von all dem ist passiert. Vielleicht hängen nun einige Panels mehr in Schulen und möglicherweise dürfen Kinder endlich mit eigenen Endgeräten arbeiten. Ob das allerdings eine nennenswerte Auswirkung ist, möchte ich bezweifeln. Wenn in einer Krise immer auch große Chancen liegen, dann haben wir hier die allermeisten verpasst.
Welche Entwicklungen gibt es in der Internetnutzung und der Social Media Aktivität von Schüler*innen?
Entwicklungen in der Internet- und Social-Media-Nutzung von Schülern machen mir große Sorgen. Beginnend bei kritischer Quellenarbeit und der Filterungsmöglichkeit wichtiger Informationen oder überhaupt dem kritischen Hinterfragen nach einem Wahrheitsgehalt von Posts und Netzartikeln muss nicht erst seit ChatGPT konstatiert werden, dass wir Lehrkräfte Kinder kaum auf diese wichtigen Skills vorbereiten bzw. diese Kompetenzen aufbauen. Die 4K, also Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken sind doch eigentlich die Kompetenzen der Zukunft. Ich sehe allerdings eher veralteten Unterricht, in dem es in erster Linie um Vergleichbarkeit in der Leistungsmessung geht. Das Ergebnis? Wikipediaeinträge sind immer noch oft die Quelle für Referate von Schülern, Tablets werden eher wie Schreibhefte eingesetzt und veränderte methodische Prozesse sind eher selten.
Social Media Nutzung ist für mich das Kernthema in der Entwicklung der Persönlichkeitsentfaltung junger Menschen. Eine aktuelle Studie der Postbank spricht von 64 Stunden Onlinezeit von Jugendlichen im Alter von etwa 17 Jahren. Sicher heißt das nicht, dass das 64 Stunden sind, die ausschließlich auf und mit sozialen Netzwerken verbracht werden. Allerdings findet eben genau hier Sozialisation, Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung statt und zwar in einem für mich gestörten Maß. Selbstbewusstsein wird durch die Anzahl von Likes unter einem Post auf- oder eben abgebaut, Streits und Auseinandersetzungen werden permanent medial begleitet: Beginnt ein Streit im Klassenzimmer, wird er sicher bei Snapchat und Co fortgeführt, verbale Attacken finden in Chatnachrichten ihren Platz, Demütigungen durch Bild- und Videoaufnahmen, die öffentlich gepostet werden, sind Alltag, der Wert echter Freundschaft existiert kaum noch. Die toxische Programmierung auf größtmögliche Abhängigkeit von jeder Plattform wirkt sarkastisch gesagt vollumfänglich. In meinem aktuellen Buch, „Wir verlieren unsere Kinder“, das bei Droemer Knaur erschienen ist, schreibe ich von all diesen Beispielen und Entwicklungen und dem Versagen einer ganzen Generation im Umgang mit Regelungen, Menschlichkeit und Schutz in der Entwicklung und Nutzung dieser Plattformen. Damit meine ich meine Generation, nicht die der Kinder! Die jetzige Entwicklung haben nicht die Heranwachsenden, sondern am Ende wir, die oft auch das schlechteste Beispiel und Vorbild sind, zu verantworten.
Wie beeinflussen KI und ChatGPT heute die Schule, das Lehren und das Lernen?
KI, ChatGPT oder besser text- und auch bildgenerative KI werden das Bildungssystem mehr beeinflussen, als wir jetzt ahnen. Dabei geht es nicht vordergründig um die „Lehrerängste“, Schüler könnten mit ChatGPT schummeln, sondern wir sollten dringend den Blick darauf wenden, dass ein anderes Zeitalter begonnen hat, das eben jene Kompetenzen der 4K deutlich adressiert. Manipulation durch FakeNews wird unseren Alltag bestimmen. Die Überschrift eines Spiegel-Artikels stellte die Frage, ob wir nun „Das Ende der Wahrheit“ erreichen würden.
Wenngleich es durch KI unglaublich viele Chancen hinsichtlich der individuellen Förderung und Forderung durch den Einsatz adaptiver Lernsysteme oder KI-basierter Diagnostischer Verfahren und Ableitungen daraus geben wird, so sollten wir doch eben auch vom Worst-Case danken: Wie machen wir Kinder und Jugendliche (und übrigens auch uns) stark im kritischen Hinterfragen, im Umgang mit Manipulation, in der Reaktion darauf und wie machen wir KI zu einem Mitglied unserer Gesellschaft, dass wir stets kritisch an der Leine haben? All das wird aber nur dann funktionieren, wenn Bildungsverwaltung und Lehrkräfte an sich schnellstmöglich genau hierfür ein Bewusstsein entwickeln. Ich fürchte, dass dies noch immer und noch lange nicht der Fall sein wird. Das wiederum hat aus meiner Sicht eklatante Folgen. Dieser Blick mag sehr dystopisch sein, aber wir begehen gerade fahrlässige Fehler, dass wir uns dieser Herausforderung nicht mutig stellen und im Alltag eher als „Nebensächlichkeit“, quasi einem unter vielen Themen behandeln, für das von Zeit zu Zeit Fortbildungen und Tagungen angeboten werden. Wir hängen nicht nur in der digitalen Transformation im Bildungsbereich hinterher, bei der Entwicklung von KI habe ich das Gefühl, dass wir den Anschluss gänzlich verpassen.
Bei wem liegen die größten Hebel für Veränderung? Wo siehst Du am meisten Handlungsbedarf?
Der Bildungsbereich braucht fast revolutionäre Veränderungen. Lehrpläne müssen schleunigst entfrachtet werden, um mehr Raum für moralische Werteerziehung, die für Zeiten wie diesen die Basis von Mitmenschlichkeit und einem Miteinander sind, für Demokratiebildung und vor allem einem verantwortlichen Umgang mit KI. Dabei kann es um Graswurzelbewegungen in einzelnen Schulen gehen. In Niedersachsen genießen wir als Schulleitungen große, auch schulrechtlich tiefgreifende Freiheiten durch die eigenverantwortliche Schule. Hier braucht es Mut, ein Bekenntnis, zu einer Führung basierend auf Leadership, auch, wenn das für viele Kollegen, die an den Gedanken und die Form einer verwaltenden Schulleitung gewöhnt sind, anstrengen ist. So können Fachbereiche zum Beispiel durch ChatGPT ganze curriculare Vorgaben einkürzen lassen, so bei uns geschehen im Fachbereich Geschichte, umso mehr Zeit für Demokratieerziehung zu gewinnen. Es geht auch um einen veränderten Blick auf Unterricht. Wir sollten beginnen zu überlegen, wie wir Unterricht kuratieren, wen wir zum Beispiel zu verschiedenen Themen einladen. Für die Kinder ist es sicher spannender, einen Bürgermeister live zu befragen als über dessen Arbeit zu lesen. Die Hacker School ist dafür ein super Beispiel. Sie coden mit den Kids, um die Inspirer, die zumeist aus großen Unternehmen kommen, von ihrem Berufsalltag berichten zu lassen. Es geht also um nachhaltige, echte Begegnungen, um das Leuchten in den Augen der Kinder, in denen gerade Neugier geweckt wurde. Hier ist jeder einzelne Lehrer und jede einzelne Schule gefragt. Es geht darum, starke Allianzen zu bilden.
Und natürlich müssen wir immer wieder darüber diskutieren, ob der Föderalismus, den ich als Demokrat natürlich befürworte, im Bildungswesen nicht mehr und mehr zum Hemmschuh wird trotz aller Kooperationsgebote. Vielleicht muss man den kruden Gedanken wagen, ob Bildung nicht politischen, sondern eher wissenschaftlichen und bildungspraktischen Erkenntnissen und daraus entstehenden Weisungen und Lehrplänen für ein Land (sicher unter Einbezug regionaler Besonderheiten) unterliegen sollte.
Am Ende geht es für mich bei allen genannten Punkten darum, uns nicht nur ehrlich zu machen, sondern vor allem aus den Erkenntnissen mutige, schnelle und durchgreifende Schlüsse zu ziehen.
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